Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 19


Gunnar und Malandro trafen sich im Vorzimmer des Dekans. Die Sekretärin ihres Auftraggebers war gerade dabei ihren Morgenpanas mit Milch zu verderben, als die beiden eintraten. Ertappt stellte sie ihn schnell auf einen Hocker neben sich und strafte die Jungs mit einem ernsten Blick.
"Guten Morgen, Frau Viehbultran."
"Guten Morgen, Herr van der Linden. Guten Morgen auch ihnen." Sie nickte Malandro zu. Von Gunnar wusste er, dass die Sekretärin ein phänomenales Gedächtnis für Studentennamen besaß. Da er jedoch kein Student war, hielt sie es vermutlich nicht für notwendig, sich seinen Namen ebenfalls zu merken.
"Wir haben gehört, dass eine Liste erstellt wurde. Von der Metrowacht. Ich meine: für die Metrowacht. Die würde Herr Unterschnitt ebenfalls benötigen."
"Und um was für eine Liste soll es sich dabei handeln."
"Die Liste mit allen, die nicht zur Universität gekommen sind. Seit dem Mord an Professor Ulfhaus."
"Oh, die Liste. Die wurde ausschließlich für die Metrowacht erstellt."
"Heißt das, es gibt keine Kopie?"
"Genau das bedeutet es, junger Mann. Und dabei bin ich noch nicht einmal sicher, ob wir ein solches Dokument an jemand anderen aushändigen dürften."
Gunnar, der bisher das Gespräch geführt hatte, ließ den Kopf hängen, Malandro sprang ihm jedoch bei.
"Dann sollten wir dringend mit dem Dekan sprechen. Ist er da?" Mal machte sich bereits auf den Weg zur Tür des Dekans, als die Sekretärin hektisch aufsprang, um ihm den Weg zu versperren.
"Der Dekan darf nicht gestört werden." Damit wies sie auf eine Reihe von Stühlen, wo die beiden die nächste halbe Stunde verbringen sollten.
Für Gunnar bestand keine Frage darin, weswegen sie das Büro nicht betreten durften. Als jedoch kein Wagen mit Geschirr das Zimmer verließ und auch keine Reste mehr auf dem Tisch des dicken Mannes zu entdecken waren, zweifelte er ein wenig an seinem Bild, dass er sich von dem Vorsitzenden seiner Fakultät gemacht hatte.
"Eigentlich hatte ich Herrn Unterschnitt beauftragt, um der Metrowacht zuvorzukommen."
"Herr Unterschnitt geht andere Wege als die Metrowacht. Nur weil er jetzt an einem Punkt angelangt ist, den die Metrowacht vor ihm erreicht hat, bedeutet dies nicht, dass seine Untersuchungen hinterherhinken."
"Sehr schön gesagt", nickte der Dekan zur Antwort. Malandro fand dies ebenfalls und hatte die Worte, die ihnen sein Lehrer eingebläut hatte, zig Mal aufgesagt, damit sie ihm leicht von der Zunge gingen. Allerdings fügte der Dekan noch etwas weniger schmeichelhaftes hinzu: "Und vermutlich genauso frei interpretierbar wie ein Gedicht vom großen Hollon. Nun gut, ich werde eine neue Liste beauftragen. Diese ist dann auch gleich ein wenig aktueller. Schließlich muss man seine Schreibkräfte ja beschäftigt halten."
"Und wann können wir sie abholen?"
"Heute Abend. Ich hoffe das hilft dann auch weiter. Ich würde langsam gerne auch ein paar Ergebnisse sehen."
Gunnar fand es zwar ein wenig unverschämt vom Dekan, solche Forderungen zu stellen, wo er doch für den Dienst des Privatermittlers keinen Pfennig bezahlte. Aber angesichts seiner eigenen Erpressbarkeit, dass Unterschnitt nicht wirklich für ihn arbeitete und dass sie für diese Anklage keine kluge Antwort auswendig gelernt hatten, zogen sich die beiden eilig zurück.

Diesmal war es erheblich schwieriger für Tiscio gewesen, zu Hauptwachtmeister Albrecht vorgelassen zu werden. Bei den ersten Schwierigkeiten hätte er gerne einen Rückzieher gemacht, so sehr fürchtete er die erneute Begegnung und die weitere Möglichkeit, sie unbeliebt zu machen. Eingedenk des gestrigen Tages konnte aber kaum etwas schlimmer sein als der Besuch bei seiner Mutter. Er würde dieses Mal vorsichtiger sein und alle Schelte ertragen, die ihm zuteilwurde.
"Wir hatten Samstag ein Treffen mit Herrn Unterschnitt, Herr Hauptwachtmeister, um Beweise zusammenzutragen. Aber Herr Unterschnitt hat keine Beweise, nur Hinweise, die auf einen Mörder aus dem oravahlischen Umfeld deuten. Das Passt ja auch zur Kurzschwertwunde."
"Das ist ja ein weinig Mau, die Wunde als Ursache für die Vermutung heranzuziehen. Warum erzählen sie mir das, Wachtmeisteranwärter Canil?"
"Weil ich ein Metrowächter sein will."
"Dann haben sie also eine Entscheidung gefällt. Das ist gut. Danke, dass sie es mir erzählt haben."
"Es tut mir leid, dass die Hinweise so schwach sind. Aber die Mörder waren sehr vorsichtig."
"Die Mörder?"
"Oder der Mörder. Ich meinte nur, weil es ja mehr Oravahler gibt."
"Solche Behauptungen behalten sie lieber für sich. Die Situation mit Oravahl ist nie besonders entspannt."
Tiscio nickte, fügte dann aber noch hinzu: "Aber dazu passt ja auch der Atlas über die Meere. Vielleicht hat Professor Ulfhaus wirklich was gefunden, was Oravahl gefährlich werden könnte."
"Ich werde ein paar Worte mit unserer Spurensicherung wechseln. Die sollen diese Überlegung im Hinterkopf behalten. Danke, Wachtmeisteranwärter."
"Herr Hauptwachtmeister!" Tiscio wusste inzwischen ziemlich genau, wann er entlassen war und salutierte zum Abschied.
Außerhalb des Büros blieb er für einen Moment stehen, um mit einem kräftigen Atemzug seine Nerven zu beruhigen und die abgestandene, stickige Luft aufzunehmen. Er hatte es überstanden. Außerdem schien es tatsächlich so, als wenn der Hauptwachtmeister ihm nicht mehr böse war.
Mit wackeligen Beinen aber einem Lächeln auf den Lippen ging er auf Streife.

Gunnar war nach dem Besuch beim Dekan nicht mehr nach Studieren zu Mute gewesen, weswegen er wieder nach Hause gegangen war. Er hätte an dem einen oder anderen Auftrag arbeiten können, entschied sich jedoch dafür, sein Zweirad zu reparieren. Er musste alles ausbauen und reinigen, dass mit dem Wasser aus dem Gresgorgraben in Berührung gekommen war, die Feuerkammer überprüfen, den Auspuff putzen und anschließend alles wieder zusammensetzen. Es war eine stupide Arbeit, die den Augen genügend Zeit ließ, ziellos durch die Gegend zu wandern und dabei Regale, Schränke und Werkbänke auf neue Weise zu betrachten.
So kam es, dass Gunnar sich dazu zwingen musste, seine Zweirad zusammenzusetzen, bevor er sich der viel interessanteren Aufgabe zuwandte, die Werkstatt nach etwas abzusuchen, von dem er nicht wusste, ob es existierte. Er war vielleicht zur Hälfte mit seiner Suche fertig als er zufällig aus dem Fenster blickte und bemerkte, dass die Sonne bereits dem Abend zulief. Er war versucht, das Chaos, welches er bei seiner Suche hinterlassen hatte, noch aufzuräumen, entschied sich dann aber schweren Herzens, doch lieber den Termin mit Malandro einzuhalten, um die Liste abzuholen.

Es handelte sich um zwei Zettel, jeweils beschrieben mit zwei Riehen an Namen, ohne Adresse oder Hinweis darauf, ob es sich um Studenten oder Dozenten, Tutoren oder Angestellt handelte.
"Grabenschleim! Was sollen wir denn damit?"
"Wir müssen halt herausfinden, wo sie wohnen."
"Und wie willst'e das hinkriegen?"
"Warte einen Moment ... ja, ein paar kenne ich."
"Wie viele?"
"Acht."
"Acht von über siebzig? Das hilft uns nicht besonders weiter."
"Glaub ich schon. Ich gehe zu denen hin, die ich kenne und frage mich zu anderen durch. Wird ein wenig dauern, aber solange wir keinen Zugriff auf die Melderegister der Stadt oder der Universität haben, bleibt uns nichts anderes übrig."
"Wir könnten noch einmal zum Dekan."
"Nach dem, wie es heute Morgen gelaufen is? Den Weg würde ich mir gerne ersparen."
Malandro ließ den morgendlichen Besuch noch einmal Revue passieren und nickte stumm. "Dann sollten wir uns wohl mal dran machen."
Den ersten Studenten fanden sie tatsächlich in seiner Bude, immer noch leicht fiebrig, aber klar genug, um ihnen die Anschrift eines anderen aus der Liste nennen zu können. Auf diese Weise arbeiteten sich die beiden durch die ersten drei Namen, die Gunnar bekannt waren und besuchten immerhin sieben Wohnungen, bis es zu dunkeln begann und sie sich für die Nacht verabschiedeten.

Die Jungen aus der Feldstrasse